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Titel: Kunst und Literatur II · von Evgen Bavcar · S. 198 - 199
Titel: Kunst und Literatur II , 1998

Evgen Bavcar
Das verbrannte Bild

Wenn ich, wie gewöhnlich ohne Begleitung, in den weitläufigen Landschaften meiner Kindheit umherreise, so halte ich häufig vor der Kirche des Dorfes ein, in dem ich geboren wurde. Seit nunmehr fast vierzig Jahren suche ich ihr Inneres und Äußeres unablässig daraufhin ab, jenes unbeschreibliche Licht wiederzufinden, das dort an Festtagen entstand.

Ihren zahlreichen slowenischen Kirchenschwestern gleich, stellt sie das Herz der Ortschaft dar, wo die Wege zusammenlaufen, die von Norden nach Süden, von den Bergen in die Ebene führen. Doch ist sie auch die Schnittstelle jener Routen, die vom Leben zum Tode, und manchmal vom Tode zu einem wahren Leben bringen.

Ja, wenn die Augen der Transzendenz, stets mit Erstaunen, erst die Not eines Neugeborenen, und kurz darauf im Dunstschleier der Trauer den Sarg einer geliebten Person ausmachen, so mahnt das Echo der Erinnerung daran, daß jene Kirche ein Ort ist, an dem kein Weg vorbeiführt. Früher war sie stiller, machte sich nur durch den Klang der Glocke bemerkbar, die – um Punkt sechs Uhr – zum Gebet rief oder dem neuen Morgen ein Willkommen sagte. Ihre auf e-Moll gestimmte Glocke, die die Abreise eines meiner Mitbürger ankündigt, verheißt mir Schmerz. In jenem Moment möchte ich sie lieber nicht hören oder aber ihre hohen Töne vom stillenden Wind gedämpft wissen. Dieserart bekommen die Dinge des Daseins eine andere Präsenz – undurchsichtiger und vielleicht wahrer. Vom Wind verhüllt scheint die Glocke durch die Wiesen zu spazieren, von einem Dorf zum anderen, bis zum Gipfel der Berge. Mit ihrem schwerfälligen…


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