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Titel: Bild und Seele · S. 127 - 134
Titel: Bild und Seele , 1989

Alfred Bader
Kreativität und Wahnsinn

Nach alten Definitionen ist Verrücktheit das Gegenteil von vernünftigem Verhalten. Man sperrte den Verrückten deshalb in den Narrenturm; vor kaum zwei Jahrhunderten wurde er von seinen Ketten befreit. Nur langsam, zuletzt dank den Erkenntnissen Freuds, wandelte er sich zum psychiatrischen Patienten. Doch das Asyl entwickelte sich erst zum Spital, als man endlich über geeignete Behandlungsmethoden verfügte, die heute oft eine soziale Wiedereingliederung derjenigen, die früher Irrenhäuser bevölkerten, ermöglichen.

Wahnsinn existiert jedoch weiter. Immer noch sind zum Beispiel ungefähr ein Prozent der Weltbevölkerung (unabhängig von den kulturellen Gegebenheiten) schizophren. Verrücktheit gehört zum Menschsein. Dies dürfte nicht erstaunen, hat Verrücktheit doch mit dem Denken zu tun, das unser besonderes Privileg ist. Der verrückteste Mitmensch bleibt ein Mensch, und auch im gesündesten schlummert der Wahn. Das manifestiert sich in unseren Träumen und bildhaften Vorstellungen, kommt dann und wann auf dem Papier zum Ausdruck, seltener in einem abweichenden Verhalten. Die Welt des Wahns ist nicht die alltägliche, doch sie betrifft uns alle.

Das Interesse für die psychopathologische Bildnerei ist entstanden, weil die Welt des Verrückten, auf dem Papier wiedergegeben, für Dritte sichtbar wird. Das Verdienst, als erster – schon 1872 – auf solche zeichnerischen Produktionen hingewiesen zu haben, kommt dem französischen Gerichtsmediziner Ambroise Tardieu27 zu. In der Folge begannen sich die Psychiater hauptsächlich im Hinblick auf diagnostische Ziele dafür zu interessieren. Erst 35 Jahre später, 1907, hat Marcel Réja (Pseudonym des französischen Arztes Paul Meunier) sein Buch über “Die Kunst bei den Verrückten”4,25 veröffentlicht. Dieses wenig bekannte, aber doch prophetische Buch steht…


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