Brief aus Paris
“Vous avez dit figures?”
Paris im Januar ’85: Präsident Mitterand fliegt auf Blitzvisite in den Südpazifik, um den Kanaken gut zuzureden, während im eigenen Land Nacht für Nacht obdach- und mittellose Menschen in Eis und Schnee erfrieren; aber das ist die Schattenseite. Gleichzeitig nämlich erstrahlt die Stadt in einem kulturellen Glanz, der sogar harten Konkurentinnen wie New York oder London ein Quentchen Neid abringen dürfte. Kandinsky und Magritte, Holbein und Watteau – das winterliche Aufgebot an Kunst und Künstlern ist imposant. Fast scheint es, als sei Paris – Kolonialkrise hin, Kälteschock her – angetreten, seinen Ruf als Metropole der Weltkunst zurückzuerobern.
Allen Dezentralisierungsparolen zum Trotz ist Frankreich kulturell nach wie vor identisch mit seiner Hauptstadt. Und deren kultureller Mittelpunkt wiederum ist das Centre Georges Pompidou, von den Einheimischen freundlich “le Beaubourg” genannt. Den auswärtigen Besucher irritiert diese Kommunikationsfabrik aus dem Stabilbaukasten jedesmal aufs Neue mit ihren gigantischen Ausmaßen und ihrem schier unüberschaubaren Ausstellungs-, Film-, Musik- und Theaterprogramm. Die Eingangshalle wirkt ungefähr so museal wie ein Flughafen, der Abfertigungsschalter für die Kandinsky-Interessenten ist im 5. Stock. Das Anstehen lohnt. Denn diese grandiose Parade von Meisterwerken Kandinskys aus allen wichtigen Sammlungen der Welt hinterläßt nicht nur einen tiefen Eindruck von der unendlichen Vielfalt seiner Malerei, sondern ermöglicht es vor allem auch, die Kontinuität nachzuvollziehen, mit der dieser Pionier der Abstraktion konsequent vom Illustrator eines folkloristischen Märchenlandes zum Herrscher über ein eigenes Universum avancierte. Dicht gehängt und in lustig bunte Rahmen gefaßt, erscheinen seine expressionistischen Murnauer Landschaften hier im rechten Licht, lediglich…