Warren Neidich
Aktivistische Neuroästhetik als künstlerische Praxis in der Post-Wahrheitsgesellschaft
Ein Gespräch von Ann-Katrin Günzel
Der Autor, Theoretiker und postkonzeptuelle Künstler Warren Neidich (* 1958, New York), arbeitet interdisziplinär zu aktuellen Fragestellungen. Dabei untersucht er die Verbindung von Kunst und Neurowissenschaften und fragt in seiner künstlerischen Praxis nach Prozessen der immateriellen Arbeit in der Wissens-Ökonomie und in unseren Köpfen. In dem vorliegenden Interview erläutert er seine Theorie der aktivistischen Neuroästhetik und des kognitiven Kapitalismus, nach denen die materielle Plastizität des Gehirns durch die – vor allem kulturelle – Veränderung unserer Umgebung ebenfalls Transformationen unterworfen ist.
Ann-Katrin Günzel: Deine Kunst ist eng mit den Neurowissenschaften verknüpft. Kannst du die Beziehung zwischen beiden kurz erläutern?
Warren Neidich: Einige meiner frühen Arbeiten haben sich mit Fragen des Re-enactments, der fiktiven Dokumentation und des Archivs befasst. Ende 1996 bin ich aber zu meinem Studium der Neurobiologie und der Neurowissenschaften zurückgekehrt, um meine Kunstpraxis zu erweitern. Auch weil ich sah, dass meine Kunst die Neurowissenschaften aus dem Bereich des militärisch-industriell-medialen herauszulösen vermag. Ich nannte diese Praxis Neuroästhetik. Heute bezeichne ich sie als Aktivistische Neuroästhetik. Mein Projekt www.artbrain.org und das „Journal of Neuroaesthetics“ sind daraus hervorgegangen. Die Aktivistische Neuroästhetik konzentriert sich – im Gegensatz zu der in Deutschland eher bekannten positivistischen Neuroästhetik – darauf, wie Künstler, Architekten, Dichter, Filmemacher und andere Kulturproduzenten mit Praktiken, die eher wissenschaftlichen Methoden gleichen, die sinnlich wahrnehmbare Welt erforschen. Ein Kunstwerk kann die Kunstgeschichte verändern. Wie wir aus der Arbeit von Jacques Ranciere wissen, hat das politische Konsequenzen, indem der Staat die…