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Titel: Das Schöne - Plädoyer für ein eigensinniges Phänomen · von Martin Seidel · S. 42 - 43
Titel: Das Schöne - Plädoyer für ein eigensinniges Phänomen ,

Das Schöne

Plädoyer für ein eigensinniges Phänomen
herausgegeben von Martin Seidel

Corona ist nicht vorbei, der Ukrainekrieg nicht beendet, die Wohnung kälter als vor einem Jahr – und KUNSTFORUM gibt nach fast 15 Jahren wieder einen Band zum Schönen heraus! Gefragt, ob das der richtige Augenblick für ein solches Thema sei, müsste man entgegnen, dass es dafür keine passenden und auch keine unpassenden Gelegenheiten gibt. Bräuchte es diese, hätte Schönheit in der Menschheitsgeschichte nie eine Chance gehabt. Arkadien liegt zu allen Zeiten hinterm Horizont. Immer gegenwärtig sind nur Kriege, Folter, Pogrome, Völkermord, Despotismus, Homophobie und Xenophobie, Epidemien, Hungersnöte, Feuersbrünste und Klimakatastrophen. Das Schöne ist kein Heilmittel. Es bietet aber Menschen, die dafür empfänglich sind, Halt und Zuversicht. Denn es ist kein überflüssiges Luxusgut, sondern ein existentielles Bedürfnis und grundlegendes künstlerisches und anthropologisches Phänomen, das in allen Gut- und Schlechtwetterlagen als Energie und innere Stärke vorhanden und in diesen Eigenschaften zu jeder Zeit und so auch jetzt notwendig ist.

Begriff und Wesen sind vielfach Missverständnissen ausgesetzt. Zwischen dem, was landläufig als schön bezeichnet und empfunden wird, und dem, was Kunst und Philosophie daraus machen (können), liegen mitunter Welten. In der Kunst selbst steht Schönheit nicht selten im Schatten von Immanuel Kants nachhaltig lastendem Diktum des interesselosen Wohlgefallens. Infolgedessen wird darunter hauptsächlich das verbucht, was nett anzuschauen, aber nicht besonders relevant ist oder scheint. Der Ansatz dieses Bandes unterscheidet sich davon mit der Überzeugung, dass das Schöne Grundlage, Absicht und Essenz fast jeden Kunstwerkes und auch das Alleinstellungsmerkmal der Kunst gegenüber Wissenschaft und Politik ist. Es ist eine vielfältig bedingte Konstruktion sinnlicher, aber auch kognitiver Faktoren. So erschöpft sich ihr Wesen nicht in Dekor, Schminke und einer geraden Nase, nicht in berechenbaren Körperidealen und Proportionen, nicht in eingängigen Symmetrien und Harmonien der Formen und Farben. Es adressiert auch und vor allem die stimmige Tiefe künstlerischer Konzepte und deren Empathie und Lebensenergie.

Vor diesem Hintergrund fragt in dieser Ausgabe Martin Seidel nach der Krisenanfällig- und Krisenbeständigkeit des Schönen und nach Qualitäten, die sich – von der Nofretete bis hin zum Beuysschen Fettstuhl – in unterschiedlichsten Ausdrucksweisen den Weg bahnen. Constanze Peres öffnet die Betrachtung der Philosophie; in einer so grundlegenden wie spannenden ‚ontosemantischen‘ Analyse weist sie der ästhetischen Dimension mit der Schönheit als zentralem Wert eine überlebenswichtige Bedeutung zu. Der in den Neurowissenschaften gelegentlich wiederauflebende Glaube an eine für alle und alles bestehenden ‚Idealschönheit‘ stößt in diesem Band auf keine Gegenliebe. Im Gegenteil. Paolo Bianchis „Umrisse einer Ästhetik der Fotografie…“ verortet die Diversität von Schönheit in der „Akzentuierung von Widersprüchen, von Ambivalenz oder Ambiguität“ und beschreibt sie „als individuelle Erlebensform“. Mit ähnlichen Vorbehalten diskutiert Julia Allerstorfer aus weiblicher Perspektive Werke der globalen Gegenwartskunst, die das kunstgeschichtlich und sozial ausgehandelte Schöne der westlichen Welt samt den dahinterstehenden Interessen und hegemonialen Ansprüchen dekonstruieren und travestieren. Mit Blick auf documenta und Biennale widmet sich Monika Leisch-Kiesl in diesem Sinne der Zeitgenossenschaft eines eben „anderen“ Schönen, dessen Lust und Glück versprechende Qualitäten im Transferpotential der Aufmerksamkeits-, Bewusstseins- und Bedeutungssteigerung liegen. Solche Momente einer authentischen Lust bieten sich Johannes Stahl auf seinen Spazier- und Museumsrundgängen mit Künstler*innen und Kunstinteressierten.

In Form von originalen Wort- und Bildbeiträgen oder Interviews bringen die Künstlerinnen und Künstler Monica Bonvicini, Nezaket Ekici, Adib Fricke, Christian Jankowski, Mariella Mosler, Yves Netzhammer, Karin Sander, Philipp Ruch (Zentrum für Politische Schönheit) und Beat Zoderer ihre jeweilige Sicht der Dinge und Argumente fürs Schöne ein.

So entsteht ein intersubjektives Bild des Schönen, aus dem sich nicht zuletzt die Auffassung ableiten lässt, dass es auch in Zeiten der Krisen und des Handlungsbedarfs nicht verantwortungslos ist, sich fürs Schöne zu interessieren, und dass es ein Verlust von Lebensqualität wäre, dieses Geschenk nicht anzunehmen. Auch wenn es direkt nichts auszurichten vermag, dürften – so die Meinung aller Autor*innen dieses Bandes – in dunkleren Tiefen doch Zusammenhänge zwischen dem Schönen und den Widrigkeiten dieser Welt bestehen. Das Schöne ist in allen Bereichen des Lebens und der Kunst reichlich gegeben, weitaus reichlicher als das Gespür, es zu erkennen und zu würdigen. Vielleicht läuft in Gesellschaft und Politik – seit neuestem selbst im einstigen Sehnsuchtsland der blühenden Zitronen – gerade deswegen so vieles aus dem Ruder, weil der Sinn für die höheren inneren Harmonien des Schönen abhandengekommen ist.