Goldene Schnitte und Fettecken
Eine Dekonstruktion des Schönen in zwölf Kapiteln
von Martin Seidel
Schönheit – Wort ohne Begriff
Schönheit ist ein Wort. Nach dem „DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache“ meint es Schönsein, Herrlichkeit, Zierde, Schmuck, Festlichkeit. Es hat mit humanistischen Bildungsidealen zu tun und charakterisiert Kunst, Wissenschaft und Literatur als „Schöne Künste“, „Schöne Wissenschaften“, „Schöne Literatur“. In Worten wie „verschönern“, „beschönigen“, „schöntun“ oder „Schönling“ und „schöner Schein“ hat es zumindest einen negativen Beigeschmack. Es bezieht sich aufs Sehen und aufs Hören, auf Musik und Klänge. Auch auf der geistigen Ebene ist das Schöne präsent: Ein Prosastück kann schön sein, ebenso ein Gedicht, ein Gedanke, eine mathematische Gleichung und auch ein Charakter, eine Seele, eine Idee.
Bedürfnis und Notwendigkeit
Zu allen Zeiten gestalten menschliche Gemeinschaften – durchaus mit Schöpferpathos und im Bedürfnis, das Naturgegebene und Naturschöne zu überbieten – ihre Umwelt und schaffen „Schönes“ parallel zur Natur oder in freien abstrakten Setzungen: in der Höhlenmalerei, im Dekor von Gebrauchsgegenständen, bei Bauwerken, Tapeten, Schmuck und anderem. Solche Gestaltungen braucht der Mensch zum Leben nicht wie Luft und Wasser. Aber sie sind notwendig, sonst gäbe es sie nicht über alle Zeiten hinweg.
Der Mensch und besonders Künstler*innen gestalten mit einem ästhetischen Aufwand, der über den funktionalen und zu einer Funktion in einem angemessenen Verhältnis stehenden ästhetischen Bedarf hinausgeht. Dafür gibt es (1) kultische, religiöse Gründe – man will kraft einer ästhetischer Anstrengung einer höheren Macht Reverenz erweisen; (2) magische Gründe: man möchte finstere Mächte oder auch nur seine Mitmenschen und Nachbarn freundlich stimmen; (3) man will…