Die Preisgabe des Ästhetischen
von Ronald Berg
Die Apokalypse passiert. Man muss das Corona-Virus nicht theologisch verstehen, um festzustellen, dass die Wirkung der dadurch ausgelösten Pandemie in vieler Hinsicht einer Offenbarung gleicht.1 Zum Beispiel in Sachen Kunst. So sorgte der Shut-down so gut wie aller Kultureinrichtungen im Frühjahr 2020 dafür, dass die Kunst unsichtbar wurde. Zumindest so die Meinung vieler. Ohne den Zugang zu Museen, Galerien, Kunstmessen oder Kunstausstellungshäusern, so schien es, gab es auf einmal gar keine Kunst mehr. Die Folgen: Das Publikum darbte, die Künstler standen auf dem Schlauch und Museen und Messen flüchteten sich ins Digitale. Aber war denn diese Annahme überhaupt richtig? Gibt es die Kunst ohne Kunstbetrieb gar nicht mehr? Oder ist das vielleicht nur eine Täuschung?
Sind wir nicht alle von Kunst umgeben, ob innerhalb der eigenen Wänden, in den Kirchen oder etwa im Stadtraum, wo von alten Denkmälern bis zur aktuellen Kunst im öffentlichen Raum kaum eine Gemeinde ohne Kunstwerke auszukommen scheint? Dazu kommen noch solche Spielarten der Kunst, die als Baukunst oder Gartenkunst ohnehin nicht 1 : 1 ins Museum passen, aber deren Gestalt unsere Umwelt prägen. Was also war das Problem? Kunst gibt es doch auch außerhalb des Kunstbetriebs. Man muss nur mal hinsehen.
Doch so einfach scheint das mit der Wahrnehmung von Kunst nicht zu sein. Seit Marcel Duchamp 1917 ein Pissoir zur Kunst erklärte, kann im Prinzip alles zur Kunst werden. Der Haken ist nur: Wenn alles Kunst sein kann, dann kann es eigentlich genauso umgekehrt sein. Wenn es keine Differenz zwischen einem…