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Relektüren · von Rainer Metzger · S. 314 - 315
Relektüren ,

Relektüren
Folge 75

Rainer Metzger

„Die Zahl / Le nombre“ ist der Titel des ersten Kapitels in Catherine Millets Reportage über ein gewisses sexuelles Leben, vom dem sie in der ersten Person Singular berichtet. Bei den beschriebenen Aktivitäten pflegen auch Normalsterbliche, diejenigen also, die über ihre einschlägige Vergangenheit kein Buch schreiben, das es noch im Jahr des Erscheinens auf acht Auflagen bringt, ins Auflisten zu kommen. Das Klischee will es, dass vor allem Männer mitzählen. Doch durch Tracey Emins signaturhaft gewordene Installation Everyone I Have Ever Slept With 1963–1995 kennt man solches Quantifizieren auch von Frauen – wobei in ihrem Fall, allein durch den chronologischen Beginn in Emins Geburtsjahr 1963 fixiert, auch solche Personen vorkommen, mit denen ganz buchstäblich geschlafen, also nebeneinander im Bett gelegen wurde. Zum Entstehungsjahr der Arbeit 1995 hin wird sich der Titel dann mutmaßlich in erweitertem Sinn verstehen lassen. Wie auch immer: 102 Namen finden sich in der Zusammenstellung der Künstlerin, und manche, die das lesen, werden bei dieser Zahl nicht einmal mit der Schulter zucken.

Bei Catherine Millet lautet die Zahl 49: „Neunundvierzig Männern, mit denen ich geschlafen habe, kann ich einen Namen zuordnen und in manchen Fällen auch eine Identität. Jene aber, die sich in der Anonymität verlieren, kann ich nicht zählen“ (S. 19). Ein Satz von schier sublimer Herkömmlichkeit: Das Verfahren ist heterosexuell, doch auch die Art, sich zu verausgaben, scheint von einer so groß wie möglich anzunehmenden Normalität. So steigt der Abschnitt mit diesen Worten ein: „Bei den größten Sexpartys, an denen ich in den…

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