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Titel: ACT! Die entfesselte Performance · von Heinz Schütz · S. 46 - 73
Titel: ACT! Die entfesselte Performance ,

Performance: Derivate der Anwesenheit

Das Insistieren auf körperlicher Anwesenheit ist ein konstitutives Merkmal der klassischen Performance. Welche Bedeutung kommt ihm heute zu?
von Heinz Schütz

1. SALLE 711

KULTISCHE ANWESENHEIT

Hinter einer Absperrung drängt sich eine Menschenmenge. Die Körper der Anwesenden und mit ihnen die hochgehaltenen Smartphones, Tablets und Kameras sind auf einen Punkt hin orientiert, die Blicke hingegen richten sich auf die unterschiedlichen Displays. Sie schieben sich als optische Barrieren zwischen das Fotografierte und die Fotografierenden und funktionieren als Wahrnehmungsprothesen, die das Wahrgenommene aufs Displayformat reduzieren. Wir befinden uns in der Salle 711 des Louvre, die kollektive Fotosession, die hier stattfindet, dient einem einzigen Gemälde, Leonardo da Vincis „Mona Lisa“.

Es ist nun fast schon ein Jahrhundert her als Walter Benjamin feststellte: „Es liegt eben so, dass die Malerei nicht imstande ist, den Gegenstand einer simultanen Kollektivrezeption darzubieten, wie es von jeher für die Architektur, wie es einst für das Epos zutraf, wie es heute für den Film zutrifft.“ Der Auftritt der Menschenmenge in der Salle 711 – bis zu über 20.000 Personen pro Tag – widerlegt die Behauptung und weist gleichzeitig auf einen Paradigmenwechsel bei der Betrachtung von Bildern. Der neue Modus der Bildwahrnehmung kulminiert hier – fern von kontemplativer Versenkung oder kritisch-diagnostischer Betrachtung – in einer kollektiven Smartphone-Orgie. Das gemalte Bild wahrnehmen heißt hier: das Bild fotografieren. Damit wird ein Reproduktionsmechanismus in Gang gesetzt, bei dem Rezeption und Reproduktion konvergieren. Dies betrifft die in der Salle 711 vor Ort praktizierte, millionenfache fotografische Vervielfachung des Bildes, aber auch die Reproduktion eines kollektiven Verhaltensmusters:…

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