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Titel: Staunen - Alphabet der Staunenskraft · von Paolo Bianchi · S. 64 - 101
Titel: Staunen - Alphabet der Staunenskraft ,

Alphabet des Staunens

Über das Sammeln und Staunen am Beispiel der Kunstsammlung der Mobiliar
von Paolo Bianchi

Die genossenschaftlich verankerte Mobiliar Versicherungsgesellschaft betrachtet Kunst und Kultur als wichtige Impulsgeber für ihr Unternehmen. Die Beschäftigung mit künstlerischen Prozessen findet – neben Workshops mit Künstlerinnen und Künstlern, Innovationstrainings etc. – ihren produktiven Ausdruck in der unternehmenseigenen Kunstsammlung, deren Grundstein in der 1930er-Jahren gelegt wurde und die heute über 1.200 Kunstwerke umfasst. Für das gesamte Gesellschafts-, Kunst- und Kulturprogramm und damit auch für die Sammlung ist Dorothea Strauss verantwortlich: Sie leitet seit 2013 die Abteilung Corporate Social Responsability der Mobiliar. Die deutsch-schweizerische Kunsthistorikerin war davor Direktorin des Museums Haus Konstruktiv in Zürich, des Kunstvereins in Freiburg im Breisgau sowie Leiterin des Kunsthalle St. Gallen. Wenn nun Verantwortung und gesellschaftliches Engagement seit jeher zu den Grundwerten der Mobiliar gehören und Dorothea Strauss diese mit den Themen Kreativität und Zukunftsfähigkeit erweitert hat, stellt sich dennoch die Frage, was eine vielfach geschätzte zeitgenössische Kuratorin mit der Pflege und Erweiterung der Sammlung im Sinn hat. Warum Kunst sammeln? Bei der Mobiliar geht es nicht um ein Sammeln um des Sammelns willen. Es geht auch nicht um eine Suche nach schönen Dingen, um das Ausschmücken von Räumen, um eine Investition. Ganz im Gegenteil: Durch die Kunst soll unser Geist angeregt und unsere Denkweise hinterfragt werden, das meint eine in die Gesellschaft hineinwirkende Aufgabe. Es geht im weitesten Sinne darum, das künstlerische Empfinden zu begreifen und am kreativen Prozess teilzuhaben.

KEINE KONTEMPLATION OHNE REFLEXION

Für Dorothea Strauss steht fest, dass die Substanz von Kunst immer etwas Mysteriöses bleibt, etwas Geheimnisvolles birgt, wo jeder und jede „ganz allein auf dem Eiland der totalen Selbstbestimmtheit“ über Qualitätsfragen entscheidet. Zu ihrem Verständnis von Kunst meint sie: „Kunstwerke offenbaren mir Unglaubliches, Banales, Spektaku läres, auch Feines, in all den unterschiedlichen Facetten, die Kunst hervorbringen kann.“

Wenn der Philosoph Georges Didi-Huberman für eines seiner Bücher den schönen Titel „Was wir sehen, blickt uns an“ gefunden hat, dann interpretiert Strauss das so, dass durch die Beschäftigung mit Kunst eine wechselseitige Beziehung entsteht. Sie sieht dabei zwei Möglichkeiten des In-Beziehung-Tretens mit Kunst: Einerseits sei es wichtig, „immer auch eine naive, oder sagen wir besser, eine arglose Begegnung mit einem Kunstwerk zuzulassen und zu erleben. Und unsere Unwissenheit nicht als einen Stolperstein zu empfinden, sondern als Potenzial, als Kapital.“

Andererseits gelte es auch von der Kontemplation hin zu einer Reflexion zu wechseln, denn „auf dem Weg des Nachdenkens kommt unsere Arglosigkeit ins Wanken, was nicht heißt, dass wir sie verlieren müssen. Wir müssen uns eher um unseren arglosen Blick immer wieder neu bemühen, ihn zurückerobern.“ („Bulletin“, Seedamm Kulturzentrum, Ausgabe 87 / 2009)

NACHDENKLICH-ARGLOSER BLICK

Der von Strauss beschriebene „arglose Blick“ ist in einem ästhetischen Sinne rein, denn es ist ein Sehen ohne Hintergedanken und Vorurteile, dafür getragen von Zuneigung, Hingabe und Güte – also von Tugenden, die zweckfrei und ohne Kalkül bleiben. Das trifft genau den Punkt. Zwar vermögen wir die Kunst zu bestaunen, können jedoch nicht verhindern, dass sie sich unserem Staunen entzieht. Sie eindeutig bestimmen zu wollen, ist nicht möglich. Ihr Wesen besteht gerade darin, sich dem Wunsch nach bloßer Definition zu versperren. Kunst lässt sich aus einer Perspektive alleine gar nicht erfassen. Im Gegenteil: Der Raum der Kunst hat viele Türen. Vielleicht ist es ein Raum mit vielen Zugängen, die wieder zu anderen Räumen führen, wo vielleicht Staunenswertes auf uns wartet.

Am Beispiel ausgewählter Werke, die fast alle aus der Kunstsammlung der Mobiliar stammen, wurde nun von Paolo Bianchi im „Studierzimmer“ ein heuristisches Experiment unternommen, das als bewusst absichtsloses Resultat ein „Alphabet des Staunens“ hervorgebracht hat. Ausgehend von der Vermutung, dass das, was wir mit nachdenklich- arglosem Blick betrachten, uns umso mehr in Verwunderung versetzt, hat durch die spielerisch-assoziative „Lektüre“ der Werke zu einer reichen Vielfalt und Vielheit des Staunens im eigenen Blick geführt. Und das, ohne dabei die Wahrheit über die besprochenen Werke mit letzter Bestimmtheit begründen zu wollen.

Wenn Dorothea Strauss davon überzeugt ist, dass „Kunst und künstlerisches Denken als Vermittler und überraschende Treiberkräfte für eine nachhaltige, positive Entwicklung unserer Gesellschaft erkannt und aktiv einbezogen werden können“, dann soll das „Alphabet des Staunens“ einen Impuls dazu liefern, die von Strauss aufgeworfene Lieblingsfrage zu beantworten: „Was, wenn Kunst uns weiterbringt?“

A

ALCHEMISTISCHES STAUNEN

Raphael Hefti

Die Arbeitsweise von Raphael Hefti (* 1978 in Biel, lebt in Zürich und London) besitzt die Dimension einer erfinderischen Neugier. Er hat eine Vorliebe für rein industrielle Verfahren, die er sich wie ein Erfinder aneignet, um sie so für seine Skulpturen und Fotogramme produktiv zu machen. Seine Werke im Geist des Minimalismus machen die industriellen, materiellen, wirtschaftlichen, kommerziellen und ästhetischen Prozesse sichtbar,…

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