Fragen zur Zeit
Der Mann mit der Zigarre und das Mädchen mit dem Ballon
Michael Hübl
Mehr und mehr scheint sich der Modus der Frontalbehauptung und der Feudalherren-Geste durchzusetzen
Endlich zurück. Nicht der ganze Freud, aber immerhin: Bruno Ganz als Freud. Dessen Theorien werden in Nikolaus Leytners Romanverfilmung „Der Trafikant“ (2018) zwar nicht reflektiert. Doch als väterlicher Freund des jungen Franz Huchel ( Simon Morzé), den es aus der Provinz in die bereits nationalsozialistisch unterwanderte österreichische Hauptstadt verschlägt, spielt der Wiener Arzt sehr wohl eine Rolle. Und als Kunde. Ganz gibt den Begründer einer einflussreichen Denkschule und Therapierichtung als sympathischen alten Herrn mit starkem Hang zum Tabakkonsum. Der Schweizer Schauspieler setzt sein milde-melancholisches Lächeln auf, in dem die Welt zu einem bitteren Scherz schrumpft und zugleich als Abgrund schrecklichster Depression sichtbar wird, und mit diesem für ihn so typischen sphyngischen Lächeln stellt Bruno Ganz den Psychoanalytiker Sigmund Freud als jemanden dar, der ein zärtliches, nachgerade fetischistisches Faible für Zigarren hegt. Dieses Bild bleibt: Freud, der Mann, der die Zigarren liebte.
Dem Forscher und Denker ist in der jüngeren Vergangenheit vielfach die Bedeutung abgesprochen worden. Zumal dort, wo es als besonders fortschrittlich gilt, die Menschen weniger von ihrer kulturellen und sozialen Prägung her zu sehen, sondern vorrangig als Produkt ihrer genetischen Disposition zu betrachten – ein Produkt, das dann je nach Situation wie ein Algorithmus funktioniert, wie es der gerade sehr gehypte Yuval Noah Harari beschreibt.1
Nun steht immerhin am 23. September 2019 der 80. Todestag Freuds bevor. Da solche Gedenkdaten häufig ein erhöhtes Publikationsaufkommen nach sich ziehen, wäre damit zu rechnen, dass dem Mediziner, Wissenschaftler und Intellektuellen wenigstens hie und da differenzierte Würdigung widerfährt. Mochte seine bereits in David Cronenbergs Film „A Dangerous Method“ (2011) akzentuierte und inzwischen auch von der Zigarrenlobby genutzte2 Begeisterung für den blauen Dunst noch so groß gewesen sein.
Nähere Beschäftigung wird womöglich eine Szene in die allgemeine Wahrnehmung zurückrücken, die sich bezogen auf die Verhältnisse im frühen 21. Jahrhundert als aufschlussreich erweist. In seinen 1904 veröffentlichten Beobachtungen „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“ schildert Freud die Begegnung mit einem jungen Mann, dessen Unterbewusstes er enttarnt. Den Anstoß gibt ein sprachlicher Lapsus. Keiner der schlichten Sorte wie zum Beispiel, wenn jemandem das Wort „flicken“ nicht über die Lippen kommt oder der Begriff für den wedelnden Wirbelsäulenfortsatz eines Hundes nicht einfällt, weil er verdrängte Phallus-Assoziationen wecken würde. Auslöser für den hermeneutischen Prozess, in dessen Verlauf Freud das Geheimnis des Mannes freilegt, ist vielmehr ein lateinisches Zitat. Auch da handelt es sich nicht um eine Allerweltssentenz. Vielmehr versucht der junge Akademiker, einen Satz aus Vergils „Aeneis“ zu zitieren, strauchelt aber an einer bestimmten Stelle, weshalb er sich verärgert an sein Gegenüber wendet: „Bitte, machen Sie nicht ein so spöttisches Gesicht, als ob Sie sich an meiner Verlegenheit weiden würden, und helfen Sie mir lieber. An dem Vers fehlt etwas. Wie heißt er eigentlich vollständig?“3 Darauf Freud: „Gerne erwiderte ich und zitierte, wie es richtig lautet: Exoriar(e) a l i q u i s nostris ex ossibus ultor!“4
Nicht, dass hier behauptet werden soll, erhöhte Lateinkenntnis würde unweigerlich zu einem besseren Zustand der Gesellschaft führen. Genauso wenig soll in melancholischer Nachfolge des Dichters Stefan Zweig „Die Welt von gestern“ als postumes Modell beschworen werden. Aber die Passage liefert eine anschauliche Kontrastfolie zu den aggressiven, auf Konfrontation getrimmten Formen diskursiver Auseinandersetzung, die seit einigen Jahren tonangebend sind – wenn man überhaupt noch von diskursiv reden kann. Eine Radikalisierung der Sprechakte (und der an sie gekoppelten Handlungen) hat sich verfestigt, die zwar mit dem gezielt polternden Politikstil von Donald Trump paradigmatisch in Verbindung steht, sich jedoch durch diesen allein nicht erklären lässt, mag er auf andere noch so sehr…