Hito Steyerl
Wahrheit statt Echtheit – Dokumentarismen bei Hito Steyerl
Eine kommentierte Textcollage von Jolanda Wessel
Die Kunst Hito Steyerls besteht in der Herstellung unerwarteter Verknüpfungen, dem Offenlegen unbewusster Zusammenhänge. In ihren Film- und Textwerken kombiniert und verschränkt sie vielfältige, divergierende Quellen und Dokumente zu komplexen Montagen. „Diese Arbeit des alternativen Dokumentierens war Tätigkeit im eigentlichen Sinne, ein schwieriger Vorgang des Verbindens, Suchens und Ordnens“,1 schreibt Mark Terkessidis über die frühen Filme der Medienkünstlerin.
Wie klassische Dokumentarfilme und andere experimentelle audiovisuelle Formate finden ihre Arbeiten anstelle des Kinos (Black Box) einen neuen Aufenthaltsort im Ausstellungsraum (White Cube). Doch auch im Kontext der Bildenden Kunst bleiben die Befragungen des Dokumentarischen in Steyerls Werken aktuell. Bereits 2008 erscheint ihre Dissertation Die Farbe der Wahrheit, in der sie Überlegungen zu Dokumentarismen im Kunstfeld anstellt, welche die Grundlage ihrer eigenen künstlerischen Vorgehensweisen bilden. Darüber hinaus können die darin entwickelten Ausführungen als Orientierungshilfe und Leitfaden in einem breiteren Kontext dokumentarischer Praktiken dienen.
Was ist ein Dokument? Was ist Wahrheit? In welchem Verhältnis stehen beide zueinander? Die medial-globalen Entwicklungen und damit einhergehenden umwälzenden Veränderungen der letzten zwei Jahrzehnte verlangen nach einer „[…] neuen Theorie dokumentarischer Formen […]. Denn sowohl die Verbindung von Menschen und Maschinen als auch die Beziehung von Bild und Welt haben sich radikal geändert“.2
Unschärferelation des modernen Dokumentarismus
Zunächst muss die alte Vision des Dokumentarischen verabschiedet werden: „Das Leben kann nicht so, ,wie es ist‘, ins Bild eingehen. In dem Moment, in dem es Bild wird, hat es sich entäußert und ist zu seinem Anderen geworden.“3 Auf immer mehr Bildern ist immer weniger zu sehen. Das Dokumentarische steht zur Welt nicht in einem Verhältnis der Repräsentation, sondern der Unschärfe. Genauer bezeichnet Steyerl dieses Verhältnis als „[…] Unschärferelation des modernen Dokumentarismus“.4 Trotzdem dienen solche von Unschärfe gekennzeichneten oder unter Manipulationsverdacht stehenden Bilder uns als Dokumente. Steyerls These: gerade deren häufige Unschärfe, gerade „[d]er dauerhafte Zweifel, die nagende Unsicherheit darüber, ob das, was wir sehen, wahr, realitätsgetreu oder faktisch ist, begleitet dokumentarische Bilder wie ihre Schatten. Dieser Zweifel ist kein Mangel, der verschämt verborgen werden muss, sondern die Haupteigenschaft zeitgenössischer dokumentarischer Bilder.“5 Wir haben es folglich andauernd mit Dokumenten zu tun, die zwar nichts repräsentieren, zugleich jedoch trotzdem real sind, weil sie (vermeintliche) Wahrheiten erst produzieren.
Appelle, Vorbilder, Anweisungen
Mit Michel Foucault verweist Steyerl außerdem auf die Affinität von Dokumenten zu politischer Macht. Ihren Ausführungen zufolge kann das, was als Wahrheit bezeichnet wird, je nach Bedarf und Belieben festgelegt werden. Die dokumentarische Form dient hierbei sowohl der Bestätigung als auch der Legitimierung der jeweils aktuellen Politik der Wahrheit (Foucault).
„Demnach sind dokumentarische Bilder Entwürfe einer Realität, wie sie werden soll. Die Realität wird nach ihrem Abbild geformt, nicht umgekehrt. […] Dokumentarische Arbeiten sind nicht nur Abbilder, sondern Appelle, Vorbilder, Anweisungen, Anleitungen, ja ganze ethische Traktate, mit denen Haltungen zur Welt vorgeschlagen und eingeübt werden.“6 Bei gleichzeitiger Machtzunahme von dokumentarischen Formen muss durch und mit dieser Erkenntnis auch der Zweifel an letzteren Formen wachsen und deren Belastbarkeit, sowie die Repräsentation als solche in Frage gestellt werden.
Das kurze Aufleuchten einer Gegenwart
Steyerl ist trotz dieser Allianz von Macht und Dokument von seiner Notwendigkeit überzeugt; in welche Richtung ein Dokument schließlich wirkt, hängt dabei von der Wahl des dokumentarischen Verfahrens ab.
„Obgleich die enge Verbindung von Dokument und Macht / Wissen offensichtlich ist, bedeutet dies nicht, dass Dokumente deswegen außerstande sind, einen Eindruck von der Realität zu vermitteln. Denn selbst wenn alle Dokumente konstruiert sind, sind doch nicht alle Dokumente auf die gleiche Weise befangen. Und obwohl die Realität sich dokumentarisch niemals vollständig erfassen lässt, reicht manchmal auch eine Kombination ihrer Teilaspekte, um sich ein hinreichendes Bild von ihr zu machen. Die dokumentarische Politik der Wahrheit ist zwar mächtig – aber nicht allmächtig.“7
Gegenstand des dokumentarischen Bildes bleibt für Steyerl also nicht etwa die Repräsentation der Realität oder eines Objekts, sondern „[…] die Gegenwart, die es an ihnen aufblitzen lassen kann“.8 Zumindest Spuren und „[…] das kurze Aufleuchten einer Gegenwart […]“9 können mittels eines Dokuments zum Erscheinen gebracht werden.
Docutainment
Derzeit verändern jedoch andersherum Globalisierungsprozesse dokumentarische Formen und Formate derart, dass sie beim Nachdenken über Dokumentarismen nicht außer Acht gelassen werden können.
Zunächst werden durch neue technische Produktionsmittel und weltweit verbundene Distributionskanäle ihre Verbreitung und Reichweite extrem bevorteilt wie befördert.
Das Dokumentarische steht zur Welt nicht in einem Verhältnis der Repräsentation, sondern der Unschärfe.
Auch das Bild an sich erfährt im neoliberalen, digitalen Kapitalismus eine grundlegende Transformation und wird, nach Steyerls Begriff, zum „armen Bild“.10 Solche armen Bilder sind immer in Bewegung begriffen, werden kopiert und geteilt, nachbearbeitet, gelöscht und wieder verarbeitet.
Auch dokumentarische Bilder sind damit nicht länger auf ihre repräsentierende und bewahrende Funktion beschränkt, sondern besitzen Handlungsmacht und gestalten auf diese Weise die Wirklichkeit aktiv mit, oder erschaffen sogar neue Wirklichkeiten.11 „Die Bilder haben das Terrain der Repräsentation verlassen und damit begonnen, Handlungen zu katalysieren.“12 Sie brechen durch die Bildschirme, materialisieren sich in den Realraum hinein und bevölkern jeden Winkel des alltäglichen Lebens. „Sie sind nicht wirklich; sie werden wirklich.“13
Längst kontrollieren nicht mehr der Staat und dessen Wahrheitspolitik diese öffentlich zirkulierenden Bilder, sondern eine privatisierte Unterhaltungs- und Medienbranche. Deren aufgeputscher Erregungsmechanismus wirkt anstatt auf unser Denken auf unsere Sinne und Gefühle ein und betreibt „[…] die Reduktion von Information auf Ästhetik, die Verwandlung von Sinn in Sinnlichkeit“.14 Steyerl fasst die Situation wie folgt zusammen:
„Die Formel der allgemeinen Veränderung dokumentarischer Formen unter den Bedingungen der Globalisierung lässt sich auf den Begriff der Privatisierung bringen: In ökonomischer Hinsicht gerieten dokumentarische Formen unter den Druck der Privatisierung nationaler Öffentlichkeiten, in inhaltlicher Hinsicht hingegen unter den Druck der Nachfrage nach dem Privaten, Intimen, Nicht-Öffentlichen, Voyeuristisch-Spektakulären.“15
Die Welt abzubilden […] wie sie sein könnte
Wo aber liegen die Potenziale, welche die Notwendigkeit des Dokumentarischen für Hito Steyerl unbestreitbar machen? Lassen sich jenseits vom „Docutainment“16
in kommerzialisierten Öffentlichkeiten noch politische Erfahrungen an dokumentarischen Formen machen? Und welche mögliche Rolle fällt dabei den wirkmächtigen Bilderzeugnissen zu?
Trotz allem Konformismus, der letztlich einzig darauf abziele, den Status quo zu erhalten, sieht sie ebenso positive Entwicklungen im Sinne einer utopischen wie revolutionären Kraft dokumentarischer Formen. Denn zuallererst, so Steyerl, gehe es in einem kritischen Dokumentarismus nicht darum zu „[…] zeigen, was vorhanden ist – die Einbettung in jene Verhältnisse, die wir Realität nennen. Denn aus dieser Perspektive ist nur jenes Bild wirklich dokumentarisch, das zeigt, was noch gar nicht existiert und vielleicht einmal kommen mag“.17 Die Aufgabe läge folglich nicht darin „[…], die Welt abzubilden, wie sie ist, als vielmehr darum, zu erkennen, wie sie sein könnte, und dies zu realisieren“.18
Dokumentarische Arbeiten sind nicht nur Abbilder, sondern Appelle, Vorbilder, Anweisungen, Anleitungen, ja ganze ethische Traktate, mit denen Haltungen zur Welt vorgeschlagen und eingeübt werden — Hito Steyerl
Der emanzipatorische Aspekt eines solchen zukunftsgewandten Dokumentarismus besteht für Steyerl zudem in dem Anliegen, alternative Formen von Öffentlichkeit zu generieren, in denen gemeinschaftliches Handeln reaktiviert werden kann.19 Innerhalb solcher neuen Öffentlichkeiten können wiederum die beweglichen »poor images« ihre Wirkkraft entfalten: „[…] die Bilder werden über die Fronten weitergereicht […]. Sie verändern zwar je nach Kontext ihre Bedeutung. Die Verständigung liegt jedoch nicht in den Bildern selbst, sondern darin, dass sie überhaupt weitergereicht werden. […] Die dokumentarischen Bildsprachen der Gegenwart stellen keine universale Sprache dar, sondern ihre unvollkommenen Übersetzungen. Die allgemeine Dimension dokumentarischer Formen liegt nicht in, sondern zwischen ihnen.“20
Die Unmöglichkeit […] dokumentarischer Echtheit
Es bleibt die Frage: „Kann sich der Dokumentarismus damit abfinden, Kunst zu sein und auf den eifersüchtig gehüteten Besitz des echten Lebens […] verzichten? Kann er die ihm eigene „Passion des Realen“ und die damit verbundene Paranoia des Authentischen aufgeben?“21 Hito Steyerl jedenfalls kann. In ihren Werken gelingt es ihr „[…] die Gegenwart so zu montieren, dass sie auch anders denkbar wäre […]“.22
Was sie innerhalb ihrer künstlerischen Praxis als Text-Werk theoretisch verhandelt, überträgt sie unmittelbar in ihre Installationen. Mit ihren Text-, Video- und Raum-Montagen kreiert Hito Steyerl avancierte Dokumentarismen, die auf materiell-formaler Ebene solche öffentlich-sozialen Strukturen und Konstellationen antizipieren. Ihre dokumentarische Kunst „[…] zieht immer aufs Neue die […] fast unwahrnehmbare Grenze, die uns zeigt, dass das Einzige, was im Dokumentarismus eindeutig wahr ist, eine Unmöglichkeit darstellt: die Unmöglichkeit der Übereinstimmung von Leben und Bild, die Unmöglichkeit also auch jeglicher dokumentarischer Echtheit. Diese Grenze ist nicht echt: sie ist wirklich. Es lassen sich keine Macht- oder Vertretungsansprüche auf sie gründen. Aber ohne sie ist nicht nur dokumentarische Kunst, sondern auch dokumentarische Wahrheit undenkbar.“23
ANMERKUNGEN
1 Terkessidis, Mark, Das Archiv der vergessenen Anliegen. Die frühen Filme Hito Steyerls als alternative Dokumentationen, in: Ebner, Florian / Gaensheimer, Susanne / Krystof, Doris / Lista, Marcella (Hg.). Hito Steyerl. I Will Survive. Spector Books, Leipzig, 2020, S. 48–56.
2 Steyerl, Hito, Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, Turia + Kant, Wien, 2015 (1. Auflage 2008), S. 149.
3 Ebd. S. 107.
4 Ebd. S. 8.
5 Ebd. S. 9–10.
6 Ebd. S. 80.
7 Ebd. S. 130–131.
8 Ebd. S. 150.
9 Ebd. S. 144.
10 Steyerl, Hito, In Verteidigung des armen Bildes, in: Babias, Marius (Hg.), Hito Steyerl. Jenseits der Repräsentation / Beyond Representation. Essays 1999–2009, N.B.K. Diskurs Band 4,Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2016, S. 17–24.
11 Vgl. Steyerl, Hito, Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, Turia + Kant, Wien, 2015 (1. Auflage 2008), S. 133.
12 Ebd. S. 133.
13 Ebd. S. 134.
14 Ebd. S. 137.
15 Ebd. S. 154.
16 Ebd. S. 156.
17 Ebd. S. 17.
18 Ebd. S. 145.
19 Ebd. S. 148.
20 Ebd. S. 104.
21 Ebd. S. 114.
22 Ebd. S. 149–150.
23 Ebd. S. 114–115.