Kunst ohne Fiktion
von Roland Schappert
Fiktionen führen zu Missverständnissen. Sie sind eindeutig nicht verwertbar. Sie können nicht politisch korrekt sein. Sie sind Mehrdeutigkeiten ausgesetzt und werden nicht widerspruchsfrei mit ja oder nein – richtig oder falsch – bewertet. Einerseits scheinen Fiktionen subjektiv und austauschbar zu sein und sollten uns deshalb niemals aufregen. Andererseits gehören Fiktionen doch zur allgemeinen Welterfahrung, behaupten sich als Bestandteil wahrgenommener Wirklichkeit, Ausdruck und Gestaltung einer erweiterten Realität und wirken tief in unserem Innersten. Sollte man sie als beliebige Erdichtungen individualistischer Fantasien aus der aktuellen künstlerischen und kulturpolitischen Welt verbannen, um zumindest in Krisenzeiten mehr Klarheit und Gerechtigkeit zu erreichen?
Erkenntnisbildende funktion der Fiktionen
Kleiner Nebenweg aus der Vergangenheit: Friedrich Schiller schrieb in seiner Sammlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795): „Darin also besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt; und je imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff an sich selbst ist, (…) oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem Stoff einzulassen, desto triumphierender ist die Kunst, welche jenen zurückzwingt und über diesen die Herrschaft behauptet.“1
Das klingt zunächst wie ein historischer Triumphschrei zur Freiheit der Kunst, wie ein Appell zur grenzenlosen Gestaltungsabsicht durch die Form der Kunst, die sich über jeden Stoff – die realgeschichtliche und politische Lebenswelt – gnadenlos hinwegsetzt. Nein, das ist nicht richtig. Schiller wollte nämlich mit seinen Briefen in moralphilosophischer Absicht Immanuel Kants Begründung des Geschmacksurteils und jeglichem interesselosen Wohlgefallen die selbstgenügsame und ausschließlich subjektive Ausrichtung nehmen. Schiller wendete die…