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Fragen zur Zeit · von Michael Hübl · S. 40 - 43
Fragen zur Zeit ,

Fragen zur Zeit
Von der Dopplermoral

Beobachtungen zu einem auffallend gängigen Handlungsmuster
Michael Hübl

Hinter orthografischen Fehlern, seien sie noch so unauffällig und passager, können sich Welten auftun. Als Jacques Derrida 1968 erstmals mit seinen Überlegungen zur ‚différance‘ an die Öffentlichkeit trat,1 wählte er als Ausgangspunkt für seine Denkbewegungen einen Lapsus in der Schreibweise, auf den er wiederholt gestoßen war. Der lexikalische Standard sieht vor, dass die französische Vokabel für ‚Unterschied, Abweichung, Differenz‘ mit einem ‚e‘ geschrieben wird. Aber weil ‚différence‘ gesprochen just so klingt wie ‚différance‘, mithin so etwas wie phonetisches Gleichgewicht herrscht, wäre die leichte Normverletzung nicht groß der Rede wert gewesen, hätte Derrida in ihr nicht das Potenzial zu einem grundsätzlichen philosophischen Diskurs erkannt.

Die Dimensionen der Abweichung vom erwarteten Schriftbild, die jüngst in einer neuen Publikation zur Kunst im öffentlichen Raum zu entdecken war, sind deutlich bescheidener. Auch hier spielt 1968 eine Rolle, allerdings nicht in dem gesellschaftspolitisch-rebellischen Sinn, für den die Jahreszahl zur Chiffre geworden ist. Mitte Januar 1968 erschütterte ein schweres Erdbeben den Südwesten Siziliens. Der Ort Gibellina hoch oben in den Bergen wurde dermaßen zerstört, dass man es vorzog, eine komplett neue Stadt im Tal des Flusses Belice anzulegen: Gibellina Nuova. Ein Projekt beflügelt von gutem Willen und beseelt vom Glauben an die gemeinschaftsstiftende Kraft der Kunst. Sie sollte in dem am Reißbrett entworfenen urbanen Gefüge ebenso einen festen Platz einnehmen wie im Bewusstsein der durch die Katastrophe traumatisierten Menschen. Die Stadt als großer Skulpturenpark mit Werken wie „Doppio spirale“ (1973) von Paolo Schiavocampo, „Ritmi spaziali“…

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