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Biennalen · von Sabine Maria Schmidt · S. 292 - 297
Biennalen ,

My Rhino is Not a Myth

Art Encounters Biennale, Timişoara 19.05.–16.07.2023
von Sabine Maria Schmidt

Albrecht Dürer zeichnete 1515 ein spektakulär-seltenes Tier, das er selbst – wie fast alle seiner Zeitgenossen – nie gesehen hatte. Es war ein indisches Panzernashorn, das als Geschenk eines Sultans nach Lissabon an König Manuel I. geschickt worden war. So folgte er für seinen akribisch detaillierten Holzschnitt ausschließlich der Beschreibung eines Zeitzeugen. Mehrere gepanzerte Platten und Schuppengeflechte überziehen den mächtigen Körper. Auf der Nase ragt ein einzelnes Horn, ein weiteres setzte er auf den Rücken; fast ein Link zur eigenen Signatur. Obwohl zahlreiche Details schlicht erfunden sind, blieb das Blatt über Jahrhunderte wegweisend für Darstellung des Rhinozeros in Wissenschaft und Kunstgeschichte.

Das Nashorn soll auch Motiv eines gern zitierten Philosophenstreits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewesen sein. Diesen führte damals Ludwig Wittgenstein mit seinem Lehrer Bertrand Russel. Es gäbe keinen Beweis dafür, dass sich kein Nashorn im Zimmer befände, meinte Wittgenstein. Russell, der daraufhin humorvoll das gesamte Zimmer durchsuchte, bezweifelte dieses. Es ist nun einmal einfacher, die Nichtexistenz einer Sache zu behaupten, als diese zu widerlegen, lässt sich hieraus folgern. Eine bittere Erkenntnis im Zeitalter der Verschwörungserzähler, Flat-Earther, Propagandafetischisten und Lügenbaron*innen. Der Dramatiker Eugène Ionesco lässt in seinem Meisterstück Die Nashörner ebensolche wütend-schnaubend eine Stadt zertrampeln. In wenigen Tagen verwandeln sich nämlich die Bürger der Stadt, allesamt den rechtskonservativen und extremen Lagern folgend, in Nashörner; eine Kritik an das Mitläufer-Wesen in totalitären Regimen. Das Nashorn als Logo für die diesjährige lokale Biennale Art Encounters in Rumänien zu wählen,…

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von Sabine Maria Schmidt

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