58. Biennale Venedig
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Die Biennale Venedig ist nicht nur die älteste aller Biennalen, sie ist auch die weltweit größte Ausstellung zeitgenössischer Kunst überhaupt. Denn die Hauptausstellung wird traditionell von den nationalen Präsentationen ergänzt – 89 Pavillons sind es in diesem Jahr. Außerdem erweitern zahlreiche offizielle „kollaterale“, also zusätzliche Events das „Urmodell“ der Biennale. Verteilt ist das Ganze auf die Giardini mit dem zentralen und den historischen nationalen Pavillons, auf die Arsenale mit ihren langgestreckten Hallen sowie auf zahlreiche Locations im Stadtgebiet. Mit diesem riesigen Angebot ist die Biennale Venedig selbst für hartgesottene Kunst-Profis eine echte Herausforderung. Und wohl niemand wird es schaffen, sich alles anzuschauen.
KUNSTFORUM widmet diesem herausragenden Kunstereignis wieder einen ausführlichen Sonderband. Mit Hintergrundinformationen, Interviews, kritischen Berichten, Werk- und Installationsansichten sowie erläuternden Kurztexten und Plänen dient er ebenso als Orientierungshilfe vor Ort wie als dauerhaft gültige Dokumentation des Mega-Events.
Mit dem künstlerischen Leiter der 58. Biennale Venedig, Ralph Rugoff, führte Heinz-Norbert Jocks ein ausführliches Interview. Darin erläutert Rugoff u. a. seine kritische Einstellung zum Format „Großausstellung Biennale“, seine Gedanken zum Begriff „Globale Kunst“ sowie natürlich sein kuratorisches Konzept. Mit „nur“ 79 Künstlern, die jeweils in den Arsenalen („Proposition A“) und im zentralen Pavillon („Proposition B“) ausstellen, hat Rugoff seine Biennale um 42 Prozent gegenüber der von Okwui Enwezor (2015) und um 34 Prozent gegenüber der von Christine Macel (2017) kuratierten Schau verkleinert.
Sabine Maria Schmidt hat sich die immer noch imposante Hauptausstellung angeschaut. Auf ihrem Gang durch die beiden Ausstellungsorte fand sie eine „Bestsellerliste internationaler Shooting-Stars“ vor, aber auch „Ausnahmekünstler der postdigitalen Generation“. Für sie hat Rugoff „vieles richtig gemacht“. Auch Ingo Arend freut sich über den „ungewöhnlich überschaubaren und radikal zeitgenössischen Parcours“, den Rugoff ohne überhöhenden thematischen Überbau in präziser Werkauswahl inszeniert hat. „Das Schöne und das Schreckliche liegen bei seiner Schau friedlich nebeneinander“, lautet sein Fazit.
In seinem Beitrag „Fest und Spektakel“ unternimmt Max Glauner den Versuch einer Einordnung des Performativen in der zeitgenössischen Kunst. Dessen herausragende Rolle unterstreicht ja auch gerade der Gewinner des Goldenen Löwen der 58. Venedig Biennale, der litauische Pavillon. In seinem Text geht Glauner außerdem ausführlich auf Christoph Büchels ebenso vielbeachtetes wie vielkritisiertes Projekt BARCA NOSTRA ein. Für den Kritiker ist das Wrack am Kai der Arsenale „ein Fallstrick, eine Falle, ein Ärgernis, – ein Artefakt, in dem sich Performanz und Monument durchkreuzen, ohne in einem dieser Momente aufzugehen.“
Traditionell dokumentiert KUNSTFORUM alle nationalen Pavillons in den Giardini und den Arsenalen sowie die wichtigsten im Stadtgebiet mit fotografischen Rundgängen (Wolfgang Träger) sowie kurzen Erläuterungstexten (Susanne Boecker und Sabine B. Vogel). In vielen Fällen wurden ergänzend Interviews mit den beteiligten Künstlern oder Kuratoren geführt. So sprach Heinz-Norbert Jocks bereits vor Eröffnung der Ausstellung ausführlich mit der Kuratorin des deutschen Pavillons, Franciska Zólyom. Der KUNSTFORUM-Autor führte auch ein Interview mit den drei Künstlerinnen des mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten litauischen Pavillons.
Den Collateral-Events der Venedig Biennale hat sich Anneli Botz gewidmet. Sie besuchte die Ausstellung der New Yorker Bildhauerin Beverly Pepper, die mit ihren 96 Jahren eine der ältesten in Venedig ausstellenden, lebenden Künstlern ist (im Spazio di Thetis), und die Retrospektive von Georg Baselitz – dem ersten lebenden Künstler, dem die Accademia di Venezia jemals eine Einzelausstellung gewidmet hat. Angesehen hat sich Anneli Botz auch die Retro spektive von Jannis Kounellis in der Fondazione Prada, Luc Tuymans’ Präsentation im Palazzo Grassi sowie die beeindruckende Reinszenierung der Performance The Death of James Lee Byars in der Chiesa di Santa Maria della Visitazione. Byars’ konzeptuelles, ganz in Gold gehaltenes Denkmal des Todes wurde 1994 uraufgeführt, heute markieren fünf Diamanten den Umriss des 1997 verstorbenen Künstlers. (SB)