Dissonante Perspektiven
Unruhe
Hans Ulrich Reck
Alles in Bewegung halten, alles wahrnehmen, nichts auslassen, keinen Rest akzeptieren. Das ist eine epistemische Utopie, aber natürlich kein Programm, das wahrnehmungsphysiologisch realisierbar wäre. Ganz zu schweigen von der längst zur nützlichen Marke verkommenen Rede von der notwendigen Grenzüberschreitung oder der stetigen Grenzverschiebungen durch die Künstlerinnen. Zu vieles spricht nicht nur gegen die Möglichkeit, sondern vor allem gegen den wirklichen Nutzen solcher Auffassungen. Kann es nicht sein, dass die Grenzen nicht, wie gerne vorgestellt aus dem Innenblick betulich gefügter Ordnung, am Rande eines Feldes liegen, zu dem man sich in selbstverständlicher, unbedachter Annahme eigener Lebensmacht stets zentripetal, also mit aller Macht ins Zentrum strebend, verhält, sondern inwendig oder unterhalb, besser noch: inmitten aller sich bewegenden Dinge, Prozesse, Vorstellungen, Denkformen und aller weiteren Aktivitäten? Im Alltag würde ein Organismus, der solches im Ernst anstrebte, in kürzester Zeit zugrunde gehen. Nur, dies die Folgerung, als Maxime künstlerischen Experimentierens beschreibt solches Vorhaben ein mögliches Projekt. Slogans wären: Nichts auslassen, alles zulassen, stets im Zustand überkomplexer Beanspruchung leben. Jederzeit bereit für Widerrufe, Rücknahmen, Verschiebungen, Umformungen.
Den künstlerischen Stoffwechsel (Metabolismus) sollte man als Moment einer permanenten Metamorphose betrachten, in welcher jedes Moment ein ephemeres, aber zugleich spezifisches, also ebenso unwiederbringliches wie unhaltbares ist. An der Grenze, stetig am Limit des Überfordertseins, macht nur diese Bereitschaft den Akt künstlerischer Entscheidung existenziell, nämlich notwendig, was bedeutet, dass er zugleich auferlegt wie ein radikal freier Akt ist. Die Bewegung an der Grenze zur Überlastung der Wahrnehmungsfähigkeiten sowie die existenzielle Entscheidungsnotwendigkeit, dem Fließen der Dinge, Zeichen,…