Relektüren
Folge 72
Rainer Metzger
„Als ich ins Kinderzimmer komme, um sie zum Abendbrot zu rufen, klappt Tinka gerade einen der Bildbände zu: Habt ihr nur Bilder von Arbeitern? – Warum? – Die will ich nicht mehr sehen – Warum nicht? – Weiß nicht. Sie sind langweilig. – Aber Arbeiter sind doch sehr wichtig. – Wichtig schon. Aber ich will sie nicht immerzu sehen. – Was willst du denn lieber sehen? – Na, andere Menschen“ (S. 44, hier und im Folgenden zitiert nach der Taschenbuchausgabe): Katrin, genannt Tinka, Wolf ist im Jahr 1961 fünf Jahre alt, als sie dieses profunde Unbehagen an einem Realismus sozialistischer Prägung formuliert, das ihre Mutter sogleich zu Papier bringt. Und auch die Reaktion des Vaters: „Gerd ist entzückt. Literaturkritik auf hohem Niveau, sagt er. Der künftige Leser meldet seine Ansprüche an“ (S. 44). Die DDR-Kultur hatte sich auf den Bitter felder Weg begeben, 1959 ausgerufen sollte er die Eintracht der Werktätigen auch in den Themen, Sujets und Motiven der ästhetischen Dinge vollziehen. Darin eingeschlossen die Verpflichtungen etwa der Autorinnen und Autoren, selbst am harten Brot der Fabrikarbeit zu kauen. Als Tinkas Kindermund Wahrheit kundtat, lebte die Familie Wolf in Halle an der Saale. Am Waggonwerk im benachbarten Ammendorf war man einer Brigade zugeteilt, und im Sinne des Bitterfelder „Greif zur Feder, Kumpel“ dirigierte man dort auch einen Zirkel schreibender Arbeiter. Dass Christa Wolf in diesen Jahren als IM Margarete der Stasi zuarbeitete, wird man natürlich erst 30 Jahre später erfahren. Im Sinne der allgegenwärtigen Frage „Bist du…