Erscheinen oder Verschwinden
Ein letztes Gespräch mit Paul Virilio
von Heinz-Norbert Jocks
In seinen Werken ging es dem französischen Architekten und Denker Paul Virilio, der am 10. September im Alter von 86 Jahren verstarb, um die Folgen der Beschleunigung und der Tele-Objektivität. In seinen Schriften antizipierte er, dass die zunehmende Beschleunigung im Endstadium ihrer Geschichte einen paradoxen Zustand des „rasenden Stillstands“ erreicht haben wird. Nachdem die Menschheit ihre Macht erst durch die Domestizierung des Pferdes, dann durch die Erfindung von Eisenbahn, Auto, Flugzeug und Rakete immer mehr ausbauen und steigern konnte, werde diese sich durch die weitere Übersteigung der Beschleunigung bis hin zur Echtzeit mittels Übertragungstechnologien in eine zweite Ohnmacht verkehren. Denn die Transzendierung der Zeitmauer impliziert einen „Unfall des Wissens“: Für Virilio war die Hoffnung der Partikelbeschleuniger, durch Erzielen der Lichtgeschwindigkeit das „Gottesteilchen“ identifizieren zu können, nur ein neo-heidnischer „Lichtkult“. Jede Medaille hat eine Kehrseite, konstatierte er. Denn mit dem Auto erfand der Mensch zugleich den Auffahrunfall.
Heinz-Norbert Jocks: Was Ihre Betrachtungen zur Wahrnehmung betrifft, so ist interessant, dass Sie in jungen Jahren Maler werden wollten. Ist doch Malen eine besondere Form des Sehens.
Paul Virilio: Damit schneiden Sie etwas Wichtiges an. Van Gogh war für mich ein Vorbild. Beim Malen von Stillleben und Landschaften reizte mich die Disposition im Raum, die Beziehung der Objekte untereinander, ebenso die Frage nach der allgemeinen Bedeutung des Stilllebens. Der letzte große Still-leben-Maler nach Cézanne ist Giorgio Morandi. Bei Vermeer, der so etwas wie eine optische Kammer schuf, gefällt mir dessen Form der Bilderweiterung….